Essay – Marthalers musikalisches Theater

Riesenbutzbach – Eine Dauerkolonie

„Leben wir in einer Zeitenwende?“1
1. Einleitung und Hintergrund

Christoph Marthalers Inszenierung „Riesenbutzbach – Eine Dauerkolonie“ wurde in
den Rosenhügel Filmstudios im Mai 2009 uraufgeführt. Es handelt sich hierbei um
eine Produktion der Wiener Festspielwochen. Wie die meisten Inszenierungen
Marthalers, ist auch jene eine Co-Produktion, die mit der Bühnenbildnerin Anna
Viebrock in Zusammenarbeit entstanden ist. Viehbrocks Besonderheit ist es, die
Bühne durch ineinander übergreifende Innen- und Außenräume im Stil des Barock zu
verwandeln. Mit Einrichtungsgegenständen aus den 70er Jahren, wie Möbelstücke,
Teppiche und Lampen, schafft sie eine triste Atmosphäre, die typisch für das Duo
Viehbrock-Marthaler ist. Die Kostüme, welche insbesondere durch eine
Modenschau-ähnliche Sequenz im Schlussteil bedeutsam werden, fallen in den
Aufgabenbereich Sarah Schitteks. Ebenso wesentlich ist die Mitarbeit Christoph
Hombergers, ein bekannter Schweizer Tenor, der die musikalische Leitung in dieser
Inszenierung übernimmt. Für die Dramaturgie und die Texte trägt Stefanie Carp die
Verantwortung.

2. Handlungs- und Musikverlauf
Der Mittelstandsbürger in der Weltwirtschaftskrise entdeckt die Krise in Marthalers
Inszenierung auf seine eigene spezifische Weise. Sein wirklicher Verlust liegt dabei
in der Bedeutung, die er seiner Habe zumisst, nicht im materiellen Eigenwert des
Besitztums. Mit dem Verlust seiner Dinge, geht der Verlust seiner Persönlichkeit
einher.
Christoph Marthaler inszeniert aus kritischer Sicht eine Provinzstadt, in welcher
gelästert, geschlagen, sich gegenseitig überwacht und nichts gegönnt, gemordet,
geweint, aber auch gefeiert, getanzt und geträumt wird. Er zeigt den Bürger vor,
inmitten und nach der Krise und stellt die Frage nach Schuld und Verantwortung
sowie Freiheit und Selbstbegrenzung eines jeden durch die Außenwelt und
insbesondere durch sich selbst.
1 3 Sat Aufzeichnung aus der Reihe: Theatertreffen Berlin. Starke Stücke. Vom 29. Mai 2010. 18:45.
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Wie nah Marthaler mit seiner Inszenierung am „realen Geschehen“ bleibt, ohne dabei
zu wertend zu werden, zeigt die Einbindung vieler Zitat-ähnlicher Passagen, in denen
sich der um sein Leben betrogen fühlende Bürger zu Wort meldet. Es zeigt den
Versuch, aufgenommene Informationen auf künstlerische Weise in einen marthalerspezifischen
Kontext zu bringen, was soviel heißt, wie sie bewusst durch einen neuen
Kontext zu verfremden und doch in ihrer vorgefundenen Form zu belassen.
Fragmentarisch lässt der Regisseur seine Provinzler so etwas rezitieren, wie „Man
muss jetzt anders.“2, oder „Niemand redet darüber. Wir wissen ja nichts. Nichts
Konkretes. […] Jeder schweigt von etwas.“3 und „Leben wir in einer
Zeitenwende?“4. Die letzte Frage ist dabei eine, die über die einzelne Figur in der
Inszenierung hinaus geht. Sie ist direkt an den Rezipienten gerichtet, da sie letztlich
jeden betrifft.
Die Handlung wird dabei, wie üblich in Marthalers Inszenierungen, von der Musik
getragen. „Schumann und Schubert, Monteverdi, Mahler, ein sentimentales
Wienerlied werden hier auch szenisch dekonstruiert, mit anderem, abgründigem Sinn
versehen und erhalten dadurch überwältigende Aktualität.“5 Durch eine unmittelbare
Neukonstruktion von Inhalt und Musik erzeugt Marthaler eine Aktualität mit
klassischen, bekannten Stücken. So ertönt der Gefangenenchor aus der Oper Fidelio
mit der Passage „Oh welche Lust, in freier Luft zu Atmen“6, wobei hier über die Not
an Stelle der Lust gesungen wird. Sehnsüchtig und suchend singen die Figuren über
Ängste, Verluste und Träume.
„In allen Dingen schlummert ein Lied, das auf Erweckung durch Marthaler wartet,
auf seine Kunst der Fuge: Quietschende Türen, rülpsende Mägen, Scharren und
Kratzen ergeben zuweilen eine Symphonie von melodiösem Missklang.“7 So ertönt
unter anderem immer wieder der Ruf einer Krähe, ohne dass man die eigentliche
Quelle, den Vogel, zu sehen bekommt. Er scheint aus einer anderen Zeit oder
2 Ebd. 09:25.
3 Ebd. 1:08.
4 Ebd. 18:45.
5 Weinzierl, Ulrich: http://www.welt.de/kultur/theater/article3721999/Christoph-Marthalersfurioses-
Stueck-zu-Finanzkrise.html, vom 22.09.2011.
6 Aufzeichnung. 1:03.
7 Weinzierl vom 22.09.2011.
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Wirklichkeit wie ein Fremdkörper oder Eindringling in den Lebensraum der Figuren
einzugreifen. Seine Schreie wirken bedrohlich und unnahbar. Analog zur
Wirtschaftskrise könnte man fragen: Wie kann man sich gegen einen Angreifer, den
man nicht kennt oder sehen kann, verteidigen?
Jeder Bürger scheint auf irgend eine Weise in das Geschehen und die Krise
involviert. Dennoch, so unüberschaubar und aussichtslos die Situation wirkt, ist jeder
selbst für seine Handlungen verantwortlich und kann mit dem Gegebenen verfahren,
wie es im Rahmen seiner Möglichkeiten liegt. Man muss nur wollen, wie es scheint,
doch eben genau darin liegt die Schwierigkeit und auch Marthalers Kritik, wie ich sie
verstehe. „Ich bin so frei, wie ich es mir erlaube. Ich bin so frei, wie ich frei zu sein
glaube. Ich bin so frei, wie andere meinen, dass ich es sei. Ich bin so frei, indem ich
bestimme, was und wie frei sein heißt. So wie ich esse, bis ich genug sage. Insofern
bin ich frei, wenn ich genug frei sage. Ich bin so frei, wie ich will.“8
Zum Ende der Inszenierung wird mit den Beegees ein wenig verzweifelt, aber auch
trotzig „Staying alive“ gesungen. Der geschlossene, undurchdringliche Raum und die
in Schleife ablaufenden Liedsequenzen erzeugen kein hoffnungsvolles Bild anhand
dessen man an eine bessere Zukunft glauben könnte. Dennoch, es wird gesungen und
der Auswegslosigkeit mit Gesang getrotzt. Marthaler zeigt uns „Menschen, die in all
ihrer infantilen Tolpatschigkeit dazugehören wollen und die zum Gesang anheben,
um ihre Würde zu bewahren.“9 Meiner Ansicht nach erinnert ihr Singen an die
Bemühungen von Albert Camus tragischer Figur Sisyphos, der sich in einer ebenso
auswegslosen Situation befindet und dennoch nicht verzweifelt. Laut Camus sollen
wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.10 Indem er sein
Schicksal annimmt und sich mit den Gegebenheiten arrangiert, ist es ihm möglich,
trotz seiner prekären Lage, ein glückliches Leben zu führen. Ebenso könnte man die
Figuren in Marthalers Inszenierung sehen. Es ist immer an einem selbst, das Beste
aus der Situation zu machen. Anstatt passiv und depressiv in ihrer Provinzialität zu
verharren, könnten sie beispielsweise auch aus ihrem Alptraum aufwachen und durch
8 Aufzeichnung. 07:20.
9 Damm, Barbara: http://parapluie.de/archiv/improvisation/marthaler, vom 22.09.2001.
10 Vgl. Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde. Hamburg 1959.
S.101.
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Interesse, öffentliche Kritik und aktives Handeln oder zumindest Wählen, in das
Weltgeschehen eingreifen. Es ist eine Möglichkeit, auf die Marthaler möglicherweise
eben durch die Darstellung der übertrieben passiven Haltung seiner Figuren
verweisen möchte.

3. Das Bühnenbild im zeitlichen Stil(l)stand

„Gärungsgewerbe“ steht groß über der Bühne, was man in dem Kontext der
Handlung so deuten könnte, wie, hier findet eine Veränderung, ein Umbruch statt.
Anders formuliert könnte man auch wieder fragen „Leben wir in einer
Zeitenwende?“11
Die Bühnenbildnerin Anna Viehbrock erzeugt mit Elementen aus der Umgebung vor
Ort eine „Realitätscollage“, indem sie die verschiedenen Gegenstände auf der Bühne
in einen neuartigen Kontext zu etwas Neuem zusammen fügt. Dadurch entsteht eine
Entfremdung und Verzerrung des Ursprünglichen. Die Alltagsgegenstände mit ihrem
Ursprung aus den 70er Jahren, bekommen einen ganz eigenen, zeitlos anmutenden
Anklang, wie er auf der marthalerischen Bühne typisch ist. Man verliert das Gefühl
für Zeit und gewinnt den Eindruck, dass sie sich nur sehr zäh vorwärts bewegt. So,
wie der Gärungsprozess eine Weile braucht, scheinen auch die Provinzler in sich zu
verharren und sich nur schwer und sehr langsam vorwärts bewegen zu können.
Durch eine Vielzahl von Betten, die in mehreren Stücken Marthalers aufzufinden
sind, zeigt sich ein recht eindeutiger Verweis auf das Träumen, wobei durch die
drückende Stimmung in der Inszenierung eher eine Albtraum-Atmosphäre geschaffen
wird, denn die eines Traumes, wie man sich ihn wünschen würde. „Ich habe im
Traum geweinet.“12 So gibt es mehrere Türen, die keinen Ausweg aus dem
Gefängnis-ähnlichen Raum darstellen. Einzig Geräusche verweisen auf das Außen,
welches jedoch nicht einsehbar ist. Das Schreien einer Krähe, monotones
Motorengeräusch und Rufe verweisen jedoch nicht auf ein schöneres „Dahinter“.
Ginge man nun davon aus, dass es weitere Räume gäbe, die sich aber nicht von
jenem bekannten unterschieden, dann wäre nicht einmal der unerreichbare Ausweg
ein Ausweg. Es scheint also folglich auch auf dieser räumlich gestalteten Ebene
schier auswegslos zu sein.
11 Aufzeichnung. 18:45.
12 Ebd. 58:10.
4
4. Die Figuren und ihre Kostüme/Identität

Es spielen sechs Damen und acht Herren, darunter eine ältere kleine Dame mit einem
Sohn, den sie nicht versteht, weil er Franzose ist, ein Familienmörder, der sich
Gedanken über sein Erscheinungsbild in den Medien macht, zwei Hausfrauen, die
mal uralt, dann wieder kindlich naiv oder jugendlich kritisch auftreten und sich die
Zeit mit Gerede vertreiben, ein sich in der Musik verausgabender Trompeter, ein
Beamter, der sich hinter seinem Schalter des Kreditinstituts verschanzt und ein letzter
Kapitalist, den die Krise um seinen Schlaf bringt.
Gleich zu Beginn sehen wir sechs Frauen stumm auf etwas wartend, in Sesseln, auf
Schreibtischen und auf dem Bett verharren. Sie gähnen und schauen einander nur
selten an. Ihre Blicke gehen ins Leere oder durchbohren den anderen, nicht aus
Interesse an der jeweiligen Person, sondern aus boshafter Erwartung, sie möge etwas
Unerhörtes, Unangemessenes tun. Die Figuren reden überwiegend mit sich selbst
oder über- und weniger mit-einander. Es wird sich gegenseitig irgendetwas
Inhaltsloses vorgeworfen. „Du hast doch […]“13. Ihr „Re-agieren“ aufeinander zeigt
sich in einer Art Choreographie aus belanglosen Gesten. Das gemeinschaftliche
Gähnen gleicht einem mechanischen Ablauf, sowie das Heben ihrer Beine, oder das
Kratzen am Kopf und ihr einstimmig-eintöniges Seufzen. Das synchrone Öffnen
ihrer Münder, aus denen bloß eine Art Stöhnen und ein unmenschlich klingender
Laut kommt, lässt vermuten, dass sie die Fähigkeit zu Kommunizieren völlig
verloren haben. Unsinnig sinnig sinnierend verharren sie, miteinander, doch
eigentlich eher beieinander, denn jeder bleibt einsam und für sich. Auf eine
reflektiertere Verständnisebene zu gelangen liegt nicht in ihrem Interesse. „Wenn die
Transzendenz was von mir will, ich kann mich nicht um sie kümmern.“14
„Anfangs treten die Darsteller in typischen Viebrock-Kostümen aus der Zeit um 1970
auf. Doch dann holt die Krise die Figuren ein und mit dem Retro-Chic ist es vorbei.
In einer Art Modenschau der Hartz-IV-Bezieher defilieren die Modernisierungsverlierer
in verschlissenen Kleidungsstücken aus der Altkleidersammlung.“15
13 Aufzeichnung. 03:24.
14 Ebd. 04:24.
15 http://www.focus.de/kultur/diverses/theater-marthalers-riesenbutzbach-in-wienuraufgefuehrt_
aid_398024.html, vom 24.09.11.
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Allesamt werden sie in ihrer Armut vorgeführt. Sie beweinen den Verlust ihrer
Möbel, umarmen und umklammern sie, als hinge ihr Leben von ihnen ab. Sogar eine
Biographie eines besonderen Möbelstückes wird vorgetragen. Man erfährt, welche
Besitzer und Orte dieses Möbelstück über die Jahre gesehen hat, über die Menschen
erfährt man jedoch nichts. Es geht um Ansehen, das durch die Habe und deren
Bewertung durch Andere bestimmt wird. Dabei ist es vielmehr ein Armutszeugnis
ihrer fehlenden Persönlichkeit, als die Offenlegung materieller Armut. Sie alle „(…)
haben alles verloren. Vor allem sich selbst.“16
Das Ich hat keinen Kern und sucht nach Orientierung durch materielle Werte. „Ich
kann ja nichts dafür, dass ich mich mit meinen Benetton-Schuhen und mit meiner
Gucci-Jacke identifiziert habe. Die Benetton-Schuhe und die Gucci-Jacke und die
Naturkosmetik von „Wunderbar“ mit der schönen Verpackung und dem auf meine
Persönlichkeit aus Benetton und Gucci wunderbar abgestimmten Geschmack – das
bin ja ich. Das sind in Geld und Produkte umgesetzte Eigenschaften, die sind mehr
Wert als genetische Eigenschaften.“17
5. Schlussatz

Es zeigt sich keinerlei aktiver Einsatz für den Versuch einer möglichen Verbesserung
der Situation, sondern bloß unhinterfragte Ergebenheit, Konsum, Anerkennung von
Autoritäten und stillschweigender Erduldung der Lage. Die Mittelstandsbürger in
Marthalers Inszenierung kreisen um sich selbst. Sie leiden an einer „Sehnen-
Entscheidungs-Zündung“18. Es findet eine Selbstbegrenzung statt, die so meines
Erachtens nicht sein müsste. „Beobachtung ist sehr wichtig jetzt. Weswegen? Wegen
allem. Wegen allen. Weil wir mehr in Wechseln auf die Zukunft hin leben.“19 Wie
steht denn es mit uns?
16 Stadelmaier, Gerhard: http://www.faz.net/artikel/C30794/marthalers-riesenbutzbach-in-wien-geldallein-
macht-nicht-ungluecklich-30091838.html, vom 12.09.2011.
17 Aufzeichnung. 22:56.
18 Ebd.. 43:03.
19 Ebd. 04:46.
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Quellen:

• 3 Sat Aufzeichnung aus der Reihe: Theatertreffen Berlin. Starke Stücke. Vom
29. Mai 2010.
• Damm, Barbara: http://parapluie.de/archiv/improvisation/marthaler, vom
22.09.2001.
• Weinzierl, Ulrich:
http://www.welt.de/kultur/theater/article3721999/Christoph-Marthalersfurioses-
Stueck-zu-Finanzkrise.html, vom 22.09.2011.
• Stadelmaier, Gerhard: http://www.faz.net/artikel/C30794/marthalersriesenbutzbach-
in-wien-geld-allein-macht-nicht-ungluecklich-
30091838.html, vom 12.09.2011.
http://www.focus.de/kultur/diverses/theater-marthalers-riesenbutzbach-inwien-
uraufgefuehrt_aid_398024.html, vom 24.09.11.
• Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde.
Hamburg 1959.

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