Kurzgeschichte: Begegnung im Wald

Sie läuft durch das Gehölz. Ihr weißes, kurzes Kleid verrutscht in der schnellen Bewegung und gibt den Blick auf ihre dünnen Beine frei. Peitschende Äste schlagen ihr ins Gesicht. Unter ihr, der modrige Waldboden. Der Geruch von Moos liegt in der Luft. Kantige Wurzeln und unebenes Geäst bohren sich in ihre nackten Füße, schmerzen, lassen sie langsamer werden. Ein Windhauch geht durch die Blätter. Ein Flüstern. „Komm näher…“. Sie hält inne, horcht auf das Rauschen aus der Ferne. Die Bäume geben dem Wind nach und wiegen sich sacht hin und her. Keine Stimme mehr zu hören. Es muss eine Täuschung gewesen sein. Sie geht weiter. Der Lufthauch kühlt ihre glühenden Wangen. Sie atmet tief ein und genießt den lieblichen Duft, der sie umspielt. „Komm! Komm!“ Jetzt dringlicher. Wieder diese Stimme. Sie bleibt stehen und schaut sich um. Doch außer hohen Eichen rings um sie, die in den Himmel zu ragen scheinen, und einem Eichhörnchen, das durch ihre Anwesenheit aufgeschreckt die Flucht ergreift, ist nichts Auffallendes zu erkennen. Sie macht einen Schritt nach vorne, doch weiter kommt sie nicht, denn plötzlich steht ein Mann vor ihr. Beinahe hätte sie aufgeschrieen, doch etwas tief in ihrem Inneren sagt ihr, dass sie keine Angst zu haben braucht. So steht er vor ihr, seine langen Haare im Wind wehend. Sein Blick ist nach unten gesenkt. Er trägt keine Schuhe. Seine Hose ist zerrissen und verdreckt. Spuren von Lehm und Erdboden zeichnen nicht erkennbare Muster auf seinen Hosenbeinen ab. Um die Schultern eine Decke, die er vorne mit seiner rechten Hand zusammen hält. Durch seine ausgeprägte Muskulatur wirkt seine Statur sehr kräftig. Sie sucht seinen Blick. Vergebens. Unbeachtet starrt er weiterhin auf den Boden vor ihr. „Hast du vorhin gerufen?“ fragt sie. Keine Reaktion. Sie berührt leicht seinen Unterarm. Er schreckt zurück und lässt die Decke auf den Boden fallen. Durch den Mondschimmer wirkt sein Oberkörper noch stärker, als zuvor. Sie schaut ihm in die Augen. Er erwidert ihren Blick. Panik zeichnet sich auf seinem Gesicht ab. Plötzlich packt er ihre Schultern und wirft sie zu Boden. Er ist stark, doch sie dreht sich geschickt aus seinem Griff und rollt sich zur Seite. Beide liegen im Gehölz. Mit einem Rück ist er auch schon wieder über ihr und hält sie fest. Sie versucht sich zu wehren, doch plötzlich überkommt sie ein Gefühl von Schwindel.

Sie läuft durch das Gehölz. Ihr weißes Kleid verrutscht in der schnellen Bewegung und gibt den Blick auf ihre dünnen Beine frei. Sie ist blutverschmiert. Der Geruch von Moos liegt in der Luft. Sie bleibt stehen und atmet tief ein. Welch lieblicher Duft von Blut. Sie schaut an sich herab. Ihr Kleid hat sich rot verfärbt, ihre Beine, ihre Hände, alles ist voller Blut, doch sie scheint nicht verletzt. Sie geht weiter. Unter ihren nackten Füßen das kühle, frische Moos. Sie lässt sich nach hinten fallen und breitet die Arme aus. Ihr blutverschmierter Mund formt sich zu einer grinsenden Grimasse.

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